Frage nach der Offenbarung: Brief - Schwächung - Interpretation


Die erste Form des Schreibens aus christlicher Perspektive hatte Briefgestalt (1. Brief des Paulus an die Gemeinde von Thessaloniki). Betrachtet man das Neue Testament, den spezifisch christlichen Teil der Bibel, so finden sich darin zum Großteil Briefe. Offenbarung, wie sie in der Bibel ihren Ausdruck findet, ist eng an die Gestalt des Briefes geknüpft. Damit ist Offenbarung als ein dialogisches und auf die Zukunft hin offenes Geschehen zu verstehen, denn briefliches Schreiben ist dadurch gekennzeichnet, dass es auf eine Antwort wartet und damit seinen Inhalt auf Zukunft hin offen hält. Durch diese dialogische Konstellation und diese Zukunftsoffenheit erweist sich Offenbarung als eine "schwache" Kategorie der Vermittlung und nicht als die Unmittelbarkeit göttlicher Fülle, welche - wie der antike Mythos ebenso wie die religiösen Traditionen wissen - für den Menschen nicht fassbar wäre. 

Mit Blick auf die Briefgestalt und die mit ihr einhergehende Schwächung ergibt sich eine konkrete Aufgabe für die Theologie. In ihr geht es nicht zuletzt um eine "Erleichterung" theologischer wie gesellschaftlich relevanter Begriffe und Kategorien. Diese müssen einer ständigen Relektüre unterzogen werden, die sie von der ihnen innewohnenden Drift zur Totalisierung befreit. Mit Letzterer ist die Tendenz gemeint, jede Erfahrung einer bestimmten Kategorie unterzuordnen, die sich das letzte Wort über die Wirklichkeit anmaßt und andere Deutungen in ihrer Relevanz negiert. Die Totalität dieses Geltungsanspruches gilt es aufzulösen und auf neue, weitergehende Formen der Deutung hin zu öffnen, für die es keine prinzipielle Grenze gibt. 

Wenn Offenbarung des Absoluten, theologisch gesprochen, mit der schwachen und offenen Form der Briefgestalt in Verbindung steht, ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer schwächenden Re-Interpretation von Texten der Tradition, die unsere Welterfahrung prägen und Kategorien zum Verstehen unserer Zeit bereitstellen. Die Interpretation geht davon aus, dass uns diese Texte noch etwas zu sagen haben und sucht deren innovatives und kritisches Potential zu heben. Darin erhalten die Texte - als Briefe, die uns von ferne erreichen - eine Antwort. Ein von der Bibel als Offenbarung Gottes ausgehendes Denken betrachtete den Zusammenhang der Texte, die uns erreichen und aufeinander verweisen (die "Textur" abendländischer Tradition), als Geschehen brieflicher Sendung und Antwort.